Wer bin ich?
Vortrag von Klauß Stüwe vom 4. August 2011

 

 

Ich habe gesprochen über "Wahrnehmung"; ich habe gesprochen über "Achtsamkeit". Und jetzt ist langsam die Zeit reif über ein Thema zu sprechen, das immer sein muss auf dem Kontemplationskurs, nämlich die Frage: "Wer bin ich?".

Diese Frage ist unvermeidbar, weil an ihr im Grunde genommen die Frage hängt: was mache ich denn überhaupt auf dem kontemplativen Weg? Oder wer macht was auf dem kontemplativen Weg und wo soll das hinführen und warum sitze ich den ganzen Tag von früh bis nachts da und tue nichts, außer vor mich hin schweigen und kämpfen und schauen, dass ich damit in irgendeiner Weise zurecht komme?
Also: wer ist die oder der, der da auf dem Weg ist und warum ist diese Frage wichtig?

Die Frage ist wichtig, weil die schnelle Antwort auf: "Wer bin ich?" lautet: Ich bin ich und ich bin so wie ich bin. Diese Antwort ist zwar naheliegend aber unzureichend. Naheliegend, weil wir natürlich an uns gewöhnt sind, also je länger, desto mehr gewöhnt man sich ja und denkt: Ja ich bin halt so wie ich bin oder ich bin halt so geworden wie ich jetzt bin und so bin ich halt und das ist es. Und das stimmt bei näherem Hinschauen nicht, denn schon allein wenn wir uns mal überlegen: Was hab ich denn schon alles für Stadien durchgemacht? Ich bin gewesen: Ein Säugling, frisch geboren, ich bin gewesen: Ein Kleinkind, ich bin gewesen: Ein Jugendlicher/eine Jugendliche, ich bin gewesen: Eine junge Frau/ein junger Mann, ich bin gewesen und bin es vielleicht noch: Eine Mutter, gar schon eine Großmutter.

Und da ist ja durchaus die Frage berechtigt: Welche dieser Ich-Formen, die ich im Laufe meiner Jahrzehnte durchgemacht habe, bin ich denn nun gewesen?. War ich sozusagen immer die Gleiche/der Gleiche? War ich ja offensichtlich nicht. Ich habe z.B. sehr unterschiedlich gefühlt. Ich habe als 1-Jähriger sicher sehr eindeutige und klare Bedürfnisse gehabt, und die sind erfüllt worden oder nicht; und wenn sie nicht erfüllt worden sind, habe ich halt geschrieen bis irgendjemand gekommen ist, oder bis niemand gekommen ist und mir die Luft ausgegangen ist, oder was immer. Als 17-Jähriger habe ich ganz anders gefühlt und gemeint zu sein und zu brauchen, was ich dachte, was damals wichtig ist. Ihr seht, so ganz einfach ist die Frage nach "Wer bin ich?" nicht zu beantworten, und das ist auch gut so.

Natürlich sind wir Ergebnis von Genetik, von Chromosomen, von Vererbung, von Umständen, von Eltern, von sozialer Situation, von Erziehung, all das. Aber wenn man das schon mal wieder alles zusammenrechnet, dann wird ja auch schon wieder einigermaßen unklar, wo kommt das her, was habe ich wirklich geerbt, was habe ich gelernt, was habe ich übernommen von diesen und jenen, was habe ich mir selbst erarbeitet ? Und ich kann sagen: Ich habe einen Charakter, aber auch das ist im Grunde genommen nur eine Chiffre.

Was bitte ist ein Charakter? Das ist eine Erscheinungsform. Und so bin ich nach draußen oder so sind bestimmte Reaktionsmuster, die ich hatte und habe, und wer sagt denn, dass ich sie wirklich auch behalte und behalten will. Also, schon ganz äußerlich gesehen, ist es mit dem "Ich" nicht so leicht. Und wenn wir noch die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung dazunehmen, dann wird es immer komplizierter, weil sich dann auch noch dazugesellt, dass es Leute gibt, Forscher, die sagen: Ja, das, was wir so als "Ich" zu bezeichnen gewöhnt sind, das ist wirklich eine totale Konstruktion; es ist ein Hilfsmittel, um die Möglichkeiten, die in uns sind, soweit einzuschränken, dass wir leben können, dass wir in etwa wissen, na ja gut, so ist das mit mir, aber es könnte unter Umständen auch ganz anders sein. Was man sehr drastisch sieht, wenn jemanden z.B. eine seelische Erkrankung befällt oder plötzlich löst sich die Persönlichkeit auf oder es gibt größte Schwierigkeiten mit dem was aus einem Menschen hervorbricht.

Aber es sind Kräfte, die auch in ihm gewesen sein müssen und für eine bestimmte Zeit in Schach gehalten worden sind und jetzt doch wirksam werden. Oder mein Gehirn hört auf, vernünftig zu funktionieren, wenn ich alt bin und Alzheimer kommt über mich und dann löst sich das auch auf, was da an "Ich" gewesen ist. Und trotzdem bin ich noch da als Mensch, ich atme noch, ich lebe noch und doch kann man nicht mehr sagen ich bin ich, sondern ich weiß gar nicht mehr wer ich bin. Schon auf dieser eher pragmatischen naturwissenschaftlichen Ebene ist nicht so klar, wer dieses "Ich" ist, von dem ich gern behaupte: Das gibt es und es ist Wirklichkeit und von da aus schau ich die Welt an.

Das stimmt natürlich auch; klar, das machen wir so. Das ist ja auch gut so. Wenn wir das nicht machen würden, könnten wir weder einzeln noch in der Gesellschaft leben. Alles gut so. Aber die Frage bleibt interessant: Warum begebe ich mich auf so was wie einen kontemplativen Weg? Was will ich suchen oder finden? Da stossen wir auf etwas, was schon seit alters als Antwort bereitsteht und was ich bis heute sehr bedenkenswert und für mich richtig finde, z.B. wenn Angelus Silesius sagt:

Was der Heilige tut, das tut er im Grunde genommen nicht selbst, sondern das tut Gott.

Was will der Angelus Silesius damit sagen? Er will damit sagen, dass derjenige/diejenige, die über dieWelt geht, die sich als Mensch erfährt, als Mensch wahrnimmt, als Mensch weiß in einer bestimmten Weise, viel mehr ist oder noch was ganz anderes als das, was so erscheint und sichtbar ist und sich auswirkt. Denn der Angelus Silesius und der Tauler und der Meister Eckart und eigentlich die ganze christliche Tradition geht ja davon aus, dass wir als Menschen – jetzt sag ich mal etwas radikal – "Erscheinungsformen" sind. Gerufene, Herausgerufene. Woraus herausgerufen? Aus dem Einen, aus Gott, aus dem Ursprung, aus der Schöpfung, wie immer ich das dann bezeichnen will. Worum es geht, am entscheidenden Punkt ist: Ich komme woher. Und zwar nicht nur aus Chromosomen und Genen und Gelerntem, sondern vor all dem bin ich schon gewesen. Dann bin ich geworden und mein ganzes Werden auf diesem Erdenweg ist und bleibt verbunden mit meiner ursprünglichen Herkunft.

Ich kann solche Beobachtungen an kleinen Kindern machen. Die Kinder wissen noch eine gewisse Zeit, dass sie woher gekommen sind. Das verliert sich dann und auch unsere Erziehung ist nicht dazu angetan, diese Erinnerung zu stärken, sondern sie schwächt sie dadurch, dass sie auf andere Dinge Vertrauen lenkt, z.B auf: Du weißt, du willst, du musst, du sollst und nicht: Wo kommst du her, wo ist deine Heimat, wohin zielt deine Sehnsucht? Aber aus der inneren Sicht bleibt es wahr: Ich habe diese Herkunft, sie ist unverlierbar. Ich kann sie vergessen, ich kann sie verdrängen. Das gibt es alles. Aber so ganz tief drinnen bleibt da Ruf, Sehnsucht, Wissen.

So wie ich das sehe, erlebe, selbst weiß, ist eigentlich das ganze Thema Spiritualität Suche in ganz unterschiedlichen Formen und dann – aus meiner Sicht, sehr ernst zu nehmende – Versuche von Menschen, sich dieser Herkunft wieder zu vergewissern. Aber da ist auf der anderen Seite dieses Gewordensein, das dem entgegensteht. Und das schon seit langer Zeit.

Wenn im Neuen Testament das Bild gezeichnet wird vom Kamel, das durch das Nadelöhr muss, dann ist damit nichts anderes gemeint als dieses: Um diese Erinnerung wieder zu gewinnen, um Anschluss an diese Herkunft wieder zu gewinnen, muss dieses bis zum Kamel aufgeblasene "ich will, ich kann, ich soll, ich muss, und 1 und 1 ist 2, und was es nicht gibt, das gibt es nicht, und was man nicht beweisen kann, existiert nicht". Das ist schon ein großes Kamel, und da ist ein kleines Nadelöhr, das heißt: Lass es! Alles ausgedacht, alles Illusion, steht alles auf äußerst tönernen Füßen. Geh wieder durch dieses Nadelöhr, und du wirst sehen, auf der anderen Seite ist genau das, was du suchst.

Da ist der Punkt, wo die Traditionen des Ostens und des Westens sagen: Verlass dich nicht darauf, dass dein Gefühl, dein Verstand, dein Wissen, deine Bemühungen, deine Ernsthaftigkeit den Zugang schaffen können. Sondern es ist umgekehrt: Je mehr du einsiehst, dass du wenig tun kannst, außer bereit zu sein, wach zu sein, dich an den Rand eben dieser Ich-Struktur zu begeben und dort auszuharren, kann "Es" sich zeigen und sich dir eröffnen. Aber, es kommt darauf an, dass du aufhörst zu bestimmen, und zwar in der ersten, zweiten, dritten, vierten Schicht deines Bewusstseins – wenn es diese Schichten in dieser Form überhaupt gibt – dass du da aktiv sein kannst. Du kannst nur warten; du kannst nur offen sein; du kannst nur bereit sein.

Das ist ja alles schon viel und deshalb ist Übung und viel Übung gut. Aber der letzte Schritt, der Durchgang durchs Nadelöhr, die Erfahrung, dass es doch so ist, dass du eben Sandkorn am Strand bist, dass du Tropfen Wasser in der Wolke bist, dass du Welle im Meer bist, diese Erfahrung, diese Begegnung – die christliche Tradition sagt: Diese "Gnade" – will zu dir kommen, wenn sie dich bereit findet. Und sie findet dich bereiter und findet leichter zu dir, je weiter du dich öffnest, je mehr du dich löst von deinen Vorstellungen davon, wie das gehen kann, wer du bist, warum das so und nicht anders zu sein hat, sein könnte oder sein müsste.

Das ist auch der Grund zu sagen: Setz dich, sei still, lass es, lass es gehen, sei wach, höre, spüre, denke nicht, fordere nicht, hadere nicht, sondern sei einfach da.

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