Achtsamkeit oder über die Bewusstseinseinung
Vortrag von Klauß Stüwe vom 3. August 2011
Text von Rumi: Achtsamkeit, ergibt sich aus dem, was ich gestern versucht habe, euch nahe zu bringen: Hineingehen in eine umfassende, eine ganz offene weite Wahrnehmung. Das führt notwendig in die Achtsamkeit. Nun ist Achtsamkeit ein Begriff, der aus dem Zen stammt, aber ganz gut beschreibt, worum es auch auf dem Weg des kontemplativen Gebets geht. Wir haben in der christlichen Tradition auch Bezeichnungen für das, worum es hier heute gehen soll. In der klassischen mystischen Tradition heißt das, dieser Schritt, dieses Feld der Übung, auf dem wir uns zur Zeit bewegen, oder in das wir uns hinein begeben oder in dem wir uns ja vielleicht auch schon befinden: Die Bewusstseinseinung. Was ist gemeint? Worum geht es? Wir könnten es ganz einfach ausdrücken, so wie der Volksmund, wenn er sagt: Was du tust, das tue ganz. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Und nicht: Wenn ich gehe, dann denke ich darüber nach, wo will ich hin und denke auch nicht darüber nach, wo komme ich her – was ich oft tue – sondern ich gehe, wenn ich denn achtsam gehe und ganz gehe, Schritt für Schritt, achte auf den Weg, den Pfad, den ich gehe, die Straße, die Treppe, was immer und bin ganz Schritt, Schritt, Schritt. Und das ist ja nur ein Bild und ein ganz kleines willkürlich gewähltes Beispiel dafür, was hier gemeint ist. Gemeint ist: Ich übe mich darin, in dem, was gerade ist, ganz da zu sein, was immer das ist, mit so viel Sinnen, mit so viel Wahrnehmungsbereitschaft und -fähigkeit, wie sie mir in diesem Augenblick zur Verfügung steht, wie sie mir meine Sinne ermöglichen. Ich bin so offen, so wach, so bereit, wie es nur irgend geht. Das klingt im Grundegenommen sehr einleuchtend und auch einfach, ist aber in der Wirklichkeit, in unserer Lebenswirklichkeit, in unserer Praxis gar nicht so leicht zu leben. Und aus dem Rumi-Text können wir ersehen: Auch im 13. Jahrhundert war das offensichtlich nicht so einfach. Denn wir sind ja, wenn wir uns nüchtern betrachten, so wie wir sind, ganz oft und das unser ganzes Leben lang, verkettet mit unserer Vergangenheit. Unsere Vergangenheit, unsere Erfahrungen, unsere Schmerzen, unsere Wunden, unsere Enttäuschungen führen oft dazu, dass wir die Wahrnehmung der Wirklichkeit einschränken. Wenn ich von anderen Menschen oft verletzt worden bin, werde ich automatisch anderen Menschen gegenüber vorsichtig werden. Wenn ich oft das nicht bekommen habe, was ich meinte, was mir zusteht, werde ich besonders intensiv versuchen, zu dem zu kommen, was mir angeblich jetzt zusteht. Das heißt: In dem, was ich tue, da wo ich bin, bin ich selten frei, offen, leer. Sondern ich bin geprägt, gefüllt, gestimmt, eingeengt von dem, wie ich geworden bin. Und da dran hänge ich. Das macht mich in einer ganz bestimmten Weise ja auch aus. Und es nicht so leicht, sich daraus wirklich zu lösen und dem nicht dauernd ein großes Gewicht einzuräumen – bewusst oder unbewusst – sondern es gilt den Versuch zu unternehmen, immer wieder, immer wieder neu so unverbraucht, so unvoreingenommen, so offen, so deutlich, so klar hinzuschauen: Was ist jetzt. Und das andere Problem, das in uns da ist: Wir haben immer Vorstellungen und wir möchten immer gern, dass das so und so geht und dass wir da und da hinkommen und dass sich die Umstände in der und der Weise ändern. Oder wir haben etwas gelernt, was uns im Moment einleuchtet, und das praktizieren wir, ob’s passt oder nicht, spielt keine Rolle. Wir denken,das ist jetzt richtig: Also wird es so gemacht. Das, was wir uns an Richtigkeiten, an Ideologien zurechtgelegt haben, hindert uns auch ganz oft, wahrzunehmen, was ist eigentlich los, was ist wirklich dran , was wird im Augenblick von mir erwartet, was ist im Augenblick möglich, welche Kräfte, welche Möglichkeiten, welche Erfahrungen kann ich jetzt einbringen, um zu tun, was dieser Augenblick von mir fordert. Oder aber auch: Welche Möglichkeiten gibt er mir, ohne dass ich immer gleich oder insgesamt ganz intensiv abwäge, was alles gewesen ist; und weil alles so gewesen ist, deswegen geht jetzt das nicht oder nur so; und schon ist der Augenblick und die Gelegenheit vorbei. Also gibt es sehr viele gute Gründe, die uns an der Offenheit, an der Klarheit, am Jetzt, am Dasein hindern. Und es ist gut, wenn wir als erwachsene Menschen uns darüber jetzt nicht einfach erheben und sagen: Ja, das lassen wir jetzt einfach bleiben und machen das anders. Deswegen folgen wir der Einladung, uns auf einen Weg zu begeben. Und der kontemplative Weg oder der Weg des kontemplativen Gebets, der uns in diesem Augenblick in diese Offenheit, in diese Bereitschaft hineinführen will, heißt ja eben Weg, weil er auch nur Schritt, für Schritt, für Schritt begangen werden kann und muss. Der Johannes Tauler sagt ja ein bisschen euphemistisch, das geht nicht an einem Tag. Er meint: das geht unter Umständen nicht in einem Monat und auch nicht in einem Jahr, sondern vielleicht in 5 Jahren oder in 10 Jahren oder in 20 Jahren. Und wann wirklich "zuletzt" ist, wo es dann leicht und lustvoll wird, das sagt er ja auch nicht dazu. Das kann sich ja durchaus hinziehen. Aber sie zielt auf die Erfahrung – davon bin ich nun ganz überzeugt – und führt dahin, dass – wie der Tersteegen auch sagt – der gegenwärtige Augenblick will/soll deine Wohnung werden. In ihm ist das Leben. Jetzt und hier. In diesem Augenblick und nicht in dem, der vergangen ist, und nicht in dem, der erst noch kommt. Es gibt nach meiner Wahrnehmung ein esoterisches Grundmissverständnis: Viele, die unterwegs sind, akzeptieren das und sagen: Jawohl, ich lebe im Augenblick jetzt und hier. Aber es bleibt dann bei dem: Ich lebe für mich, ich schau auf meine Interessen, ich schau, wie es mir gut geht, ich schau, was mit mir los ist, ich schau, was sich in mir bewegt. Und das, was drum rum ist, das wird ausgeblendet, so, als ob der Übende eine Insel wäre, für die diese Einladung gilt, aber die Welt ist was ganz anderes. Gegen die kann ich mich abschotten, von der brauch ich nichts zu halten, gegen die kann ich mich direkt auch innerlich stellen. So ist das nie gemeint gewesen. Die Mystiker in Ost und West waren interessanterweise immer ganz aktive Menschen. Die haben Klöster gegründet, die sind gereist, die waren in der Politik tätig, die haben sich gestritten und eingemischt. Sie waren mitten im Leben und haben sich ganz als Teil der Welt verstanden. Sie haben den Rückzug zur Übung, ins Kloster gut und richtig und wichtig gefunden, aber sie haben ganz genau gewusst: Entscheiden tut sich dieses leb ich, leb ich jetzt, leb ich richtig nicht in meiner Klosterzelle, nicht auf meinem Kissen, auf dem ich sitze, sondern imLeben mit den anderen zusammen im Leben draußen, in meinem Alltag. Also, um das Bild zu nehmen aus der indianischen Tradition: Sie haben sich immer als eine
Masche im Gewebe des Lebens empfunden. Und nur als diese Masche haben sie sich
selbst als überlebensfähig gewusst. Und nur als ein Teil laden sie ein, fordern
sie auf, sich auf diesen Weg zu begeben, der natürlich mit mir beginnt und
immer wieder auch zu mir zurück führt: Zu meiner Übung, zu meiner Bereitschaft,
zu meiner Kraft, zu meiner Offenheit, zu meiner Wachheit. Aber es ist gar nichts Isoliertes, es ist nichts, was nur mich angeht, sondern es ist etwas, was ohne mich nicht in Gang kommt. Und deshalb durchaus die Zeiten der Stille, des
Sitzens, der Übung, in der wir ja jetzt auch sind. Es ist nicht so, dass diese Zeiten
nicht wichtig wären. Gerade jetzt auch in diesen Tagen: Hinschauen, hinspüren,
ganz genau hinschauen, ganz genau hinhören, ganz offen sein, ganz wach sein für
jeden Atemzug, jeden Schritt, den ich tue, aber natürlich auch jede Situation,
in die ich mich begebe, beim Frühstück, beim Mittagessen, bei der Mitarbeit,
wann immer, auch genauso wahrnehmen: Da sind andere und die gehören wie ichdazu, sie sind wie ich Teil dieses Ganzen. Und nur als Teil des Ganzen macht diese Übung, macht diese Bereitschaft, macht diese Entwicklung dann wirklich
Sinn. |